Es war eine für
das Land glückliche Fügung, dass ihm in der Zeit
gefährlicher politischer Spannungen in der Person
des Rittergutsbesitzers Dr. v. Lengerke auf
Steinbeck und Schwaghof ein Mann geschenkt wurde,
der, dem Kleinlichen der zu engen Heimatentrückt,
für einen Ausgleich der die gedeihliche
Fortentwicklung des Landes gefährdenden Gegensätze
erfolgreich einzutreten wusste und dessen Verdienst
es war, für eine Reihe von Jahrzehnten geordnete
staatliche Grundlagen geschaffen zu haben.
Dr. v. Lengerke, geboren am 9. Januar 1825, war kein
Lipper. Er kam aus Bremen und entstammte einer dort
zu hohem Ansehen gelangten Patrizierfamilie. Auf
dem Gymnasium der Vaterstadt, auf deutschen und
ausländischen Universitäten und auf weiten Reisen im
In- und Auslande wurde der Grund gelegt zu seiner
das Durchschnittsmaß weit überragenden, im
Klassizismus wurzelnden allgemeinen Bildung.
Beruflich betätigte er sich
nur vorübergehend im bremischen Staatsdienste,
zuletzt als Syndikus der Handelskammer. Schon 1864
schied er aus und erwarb in Lippe das Rittergut
Steinbeck mit dem Schwaghofe, wo er jenen prächtigen
Herrensitz schuf, der sich zu den schönsten des
Landes rechnen darf. Dort lebte er seinen Neigungen
an der Seite der ihm geistig ebenbürtigen Gattin aus
dem Geschlecht des bekannten Bremer Bürgermeisters
Smid. War Dr. v. Lengerke auch kein Lipper von
Geburt, so wurde er in einem langen Leben mit dem
Lande der Rose doch auf das innigste verbunden, und
er betrachtete sich nicht nur als Grundherr auf
Steinbeck, sondern auch geistig und politisch als
dem Lande zugehörig. Anfang 1875 wurde er zum
Vorsitzenden der Ritterschaft gewählt, wodurch er
nach dem damaligen landständischen
Verfassungs-Ausschuss Deputierter des Ersten Standes
wurde. Als solcher hat er, tatkräftig unterstützt
von anderen Mitgliedern der Ritterschaft, namentlich
der Herren v. Kerßenbrock auf Barntrup und v.
Borries auf Eckendorf, den Verzicht der Ritterschaft
auf ihre bevorzugte, überlebte Ständevertretung
herbeigeführt und dadurch die Grundlage geschaffen
für das Wahlgesetz vom 3. Juni 1876, das dann bis
nach dem [Ersten] Weltkrieg in Kraft geblieben ist.
[Dreiklassenwahlrecht]
Die Wähler der in diesem Gesetz gebildeten Klasse Ia
erkoren ihn zu ihrem Abgeordneten, und der neue
Landtag übertrug ihm das Amt eines
Landtagspräsidenten. Dasselbe Vertrauen brachte man
ihm bei den Neuwahlen von 1880, 84, 88, 92 und 96
entgegen, fast volle 25 Jahre! Im Jahre 1887, bei
den Septennatswahlen um die Heeresverstärkung,
wählten ihn die Lipper mit erdrückender Mehrheit
auch in den Reichstag. Nicht nur aus der nationalen
Wahlparole Bismarcks heraus, sondern auch, weil er
im besten Sinne ein populärer, ein geachteter Mann
war. Seine Persönlichkeit und seine politische
Einstellung kennzeichnet am besten die Rede, welche
er bei der Eröffnungsansprache des nach der
Obstruktionspolitik und landtagslosen Zeit 1876
gewählten Landtags hielt. In ihr betonte er, daß es
die Hauptaufgabe der Volksvertretung sein müsse,
eine gerechte Besteuerung durchzuführen und die
heranwachsenden Kräfte im Inlande, d. h. in Lippe,
für das Wohl desselben zu erhalten. Der neue Landtag
habe sodann, so führte er aus, Gesetze zu beraten,
die den Anschluß des Landes an das Deutsche Reich
mehr und mehr zu festigen hätten. Gerechtigkeit,
soziales Pflichtgefühl gegen die breiten Massen,
Mitleid mit dem Schicksal der Wanderarbeiter, kluges
Erkennen der wirtschaftlichen Bedeutung der
Arbeitskraft für das materielle Wohl des Staates,
sprechen aus diesen Worten. Gedanken, die ihre
Bedeutung behalten haben bis auf diesen Tag, um
deren zunehmende Verwirklichung auch noch in unseren
Tagen gerungen wird. Nicht weniger wohltuend berührt
sein Bekenntnis zur Reichstreue und Reichsfestigung.
Das war doppelt bedeutsam, weil seit den Tagen von
Langensalza und Königgrätz, seit den dynastischen
Tendenzen für Hannover und gegen Bismarck erst ein
Jahrzehnt verflossen war. Der alte Dr. von Lengerke
hat gerade auf diesem Gebiete eine wertvolle
politische Arbeit geleistet und die landespolitische
Führung jener Epoche zum Nutzen von Land und Reich
im Sinne der Reichseinheit entscheidend beeinflußt.
Er hat auch der friedlichen Entwicklung im Lande
wertvolle Dienste geleistet. Die Gegensätze waren
damals recht scharf, ja, sie waren unleidlich.
Fortschrittler und Konservative standen sich ähnlich
gegenüber wie in späteren Jahrzehnten
Deutschnationale und Sozialisten. Dr. v. Lengerke
stand in allen diesen Auseinandersetzungen in der
deutschen Mitte. In ihr vertrat er den politischen
und wirtschaftlichen Horizont der Hanseaten, seiner
bremischen Heimat, - das Kleine und Kleinliche
belächelnd, die Engstirnigkeit verachtend. So
leitete er mit vorbildlicher Ruhe und Überlegenheit
versöhnend und ausgleichend die hitzigsten
Landtagsverhandlungen, führte er die Kampfgeister
immer wieder auf die Plattform positiver Beschlüsse. |
Im Thronstreit, der in jenen Zeitläuften, von 1889
bis 1897, den politischen und parlamentarischen
Brennpunkt bildete, verfocht er die Rechtsansprüche
der Biesterfelder. Nicht so ungestüm wie Oskar
Asemissen, sondern mit sachlicher Zähigkeit und
treuer persönlicher Anhänglichkeit an den alten
Graf-Regenten. Unter der verfassungswidrigen
Ausschaltung der Landtagsrechte durch den 1895
verstorbenen Fürsten Woldemar hat Dr. v. Lengerke
nicht weniger gelitten, wie unter der von Berlin aus
versuchten Einmischung in den Erbfolgestreit. Als
sich Graf Ernst, erklärlich und begreiflich,
hiergegen aufbäumte, als er ernstlich erwog, dem
Prinzregenten Adolf den Einzug in Lemgo und die
Huldigung der Landstände und der Städte
entgegenzustellen, die "illegitime" Regierung in
Detmold mit der legitimen der nächstberechtigten
erbherrlichen Linie Biesterfeld von Lemgo aus zu
beantworten, da hat Dr. v. Lengerke hiervon doch
entschieden abgeraten und die Anrufung der
Entscheidung des unter dem Vorsitz des Königs Albert
von Sachsen stehenden Schiedsgerichts den für Reich
und Land, für Kaiser und Fürst würdigeren Ausweg
durchgesetzt. So bewährte sich auch in dieser Frage
seine Mäßigung und Versöhnung, auch in ihr zeigte er
staatspolitische Größe. |
In dem ihm beschiedenen Vierteljahrhundert aktiver
lippischer Politik hat er unserer lippischen Heimat
wertvolle Dienste geleistet. Sein Wirken war auch
für die Heimatgemeinde Wüsten von Segen. Auch den
kleinen Sorgen gegenüber zeigte er sich
aufgeschlossen, und auch im persönlichen Leben
betätigte er die Grundsätze öffentlichen Wirkens. So
stiftete er bei einer Familienfeier ein Kapital zur
Errichtung eines Kranken- und Siechenhauses in
Wüsten; auch darin ein Vorbild für viele. Im Jahre
1900 zog er sich, 75-jährig, vom öffentlichen Leben
ganz zurück. Als der fast 82jährige am 10. November
1906 die müden Augen für immer schloß, und die
sterblichen Reste unter den alten Buchen seines
herrlichen Parks beigesetzt wurden, da bewies die
einmütige Beteiligung der Politiker aller Richtungen
und vieler anderer, die außerhalb des Landtages mit
ihm hatten arbeiten dürfen, daß die allgemeine
Wertschätzung dieses verdienten Mannes auch während
seiner stillen Zurückgezogenheit keinen Abbruch
erlitten hatte. |