Nordwestlich von Salzuflen liegt die Ortschaft
Wüsten. Von ihr heißt es in den Lippischen Regesten
Nr. 2732 vom Jahre 1488: "Die Gegend, wo jetzt das
Dorf Wüsten liegt, war früher eine große Waldung,
die 'Woiste' genannt, welche zu dem Schloß Varenholz
gehörte, aber von dort wegen der weiten Entfernung
nicht beaufsichtigt werden konnte und daher im
Anfang des 16. Jahrhunderts durch regelloses
Holzhauen der Nachbarn völlig verwüstet war." Aus
diesen Worten geht deutlich hervor, daß mit "Wüste"
– plattdeutsch "Woiste" – ein Wald bezeichnet wurde,
und zwar ein Wald in wüstem bzw. verwüstetem
Zustand. Das Wort "Wüste" geht auf das germanische
wôsti zurück, das althochdeutsch wuosti,
mittelhochdeutsch wüeste lautet. Das germanische
wôsti ist im Altsächsischen erhalten und findet sich
als woste oft in Urkunden; das i der Endung bewirkt
Umlaut und wandelt das Wort um in woeste, das sich
als Ortsname entsprechend dem lippischen "Wüsten"
häufig im märkischen Sauerland findet.in manchen
Gegenden Westfalens ist äu der regelmäßige
Stellvertreter des ô, meist geschrieben oi oder eu;
daher lautet die plattdeutsche Form Woiste oder
Weuste. |
Solche
Wüsten oder Woisten – ursprünglich und noch lange
Zeit hießen sie "in der Wüsten, Wösten" mit der
schon in frühesten Zeiten ausgefallenen Ergänzungen
"Hof, Dorf o.ä." – waren also Siedlungen im Walde.
Man hat angenommen, daß darunter ein früher einmal
bewohntes, dann wüste gewordenes Bauerngut, also
eine Wüstung zu verstehen sei; solche Plätze hätten
auch dann diesen Namen Wüste oder Woeste behalten,
wenn sie von neuem urbar gemacht und bewohnt worden
wären. Dem widerspricht aber der Sprachgebrauch.
Einmal aufgegebene Wohnstätten hießen Wüstungen,
niemals Wüste; sie behielten ihren ursprünglichen
Namen bei, der an dem Grund und Boden haftete, also
z.B. "dy Wüstenunge Fredericherode" oder "dy
Wüstenunge genannt Wormuterode" |
Die
Bedeutung "Wald" läßt sich auch sprachgeschicht-lich
erschließen. In den Urkunden Karls des Franken
wechseln die Ausdrücke in walde Bochonia
(Buchenwald), in vasta Bochonia, in vaste Bochonia
gleichbedeutend mit einander. Waldus (Wald)
entspricht also dem vastus, der vastis. Dies
letztere ist nun sowohl der Form wie seiner
Bedeutung nach das deutsche "wüst". Das Wort waldus
tritt nur vereinzelt auf, während vastus und vastis
auch in anderen Urkunden häufiger wiederkehren. Das
Wort "Wald" war damals wohl noch nicht recht
eingebürgert. Es ist auffällig, daß es Ulfila in
seiner Bibelübersetzung nie gebraucht; im
Althochdeutschen ist es erst seit dem 7. Jahrhundert
nachweisbar. Es ist kaum zweifelhaft, daß das Wort
mit "wild" wurzelverwandt ist. Dann bezeichnet Wald
ursprünglich eine Wildnis, d.i. eine unbewohnte oder
unbewohnbare Gegend, in der die ordnende Hand des
Menschen fehlt und die freie Natur uneingeschränkt
schaltet, also ein Urwald. |
Eine
Wechselbeziehung zwischen Wald und Wüste |
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geht ferner
aus dem Gebrauche des Wortes "Wald" im Heliand hervor. Der
Dichter, der das Leben Christi im Anschluß an die
Evangelien besingt, überträgt das griechische Wort
für "Wüste" mit "Wald". In der Versuchung Christi in
der Wüste (V. 114,4) heißt es nach der Simrockschen
Übersetzung: |
"Da weilte im tiefen
Walde des Waltenden Sohn
Eine lange Zeit ... Er verließ des Waldes Hütte,
Der Einöde Raum." |
Wie hier Wald für
Wüste gebraucht wird, so umgekehrt Wüste für Wald.
In "Wüste" lag zunächst eine Eigenschaft des Waldes
ausgedrückt, seine Wildnis, seine Oede, in der keine
Spur menschlichen Aufenthalts und menschlicher
Tätigkeit zu erkennen war; allmählich gewann das
Wort die Bedeutung des Waldes selber. Dieser Vorgang
ist nicht ungewöhnlich, er kehrt wieder in den Orts-
und Flurnamen für Wald die "Dicke" (Dickicht) und
"Wilde" (Wildnis). |
Aber nicht jeder
Wald hieß Wüste. Diese Benennung beschränkte sich
zunächst auf den Wald im Naturzstande, unberührt von
der menschlichen Hand, ohne Forstpflege und
besondere Fürsorge. Der Name übertrug sich später
auch auf die von Menschenhand verwüsteten Wälder. Zu
diesen gehörten vor allem die Marken, der
Gemeinbesitz der Markengenossenschaft. Hier wurde in
vielen Fällen Wildwirtschaft betrieben. Die Mark
sollte für alle Bedürfnisse entstehen: Nutzholz,
Feuerung, Viehfutter (Laubstreiden, Abhauen von
Zweigen) wurde dem Walde rücksichtslos entzogen;
Holzfrevel war trotz hoher Strafen an der
Tagesordnung; Die Schweinemast trug auch nicht zur
Verbesserung der Marken bei. Die Klagen über
Holzverwüstungen wollen seit dem Ausgang des
Mittelalters nicht verstummen. Diese Waldungen
wurden ebenfalls "Wüste" genannt. Die Grundbedeutung
in dem einen wie dem anderen Falle der Wald, der
menschlichen Pflege entbehrt, sei es, daß die Natur
darin ihr freies Spiel treibt, sei es, daß er durch
menschliche Willkür in Verfall geraten ist.
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Der Siedlungs- und
Ortsname "Wöiste, Woeste" tritt erst im Laufe des
13. Jahrhunderts auf. Damals begann eine neue
Periode der Urbarmachung des Bodens, wohl eine Folge
der Vermehrung der Bevölkerung. Und wieder wie in
früheren Zeiten griff man auf den Wald zurück,
dessen gewaltige Ausdehnung durch die neuen
Siedlungen eine kaum merkbare Einbuße erlitt.
Besonders in den Marken gründeten sich wohl die
nachgeborenen Söhne der Hofbesitzer ein neues Heim.
Und viele von diesen neuen Höfen bekommen den Namen
"in der Woesten". In ganz Westfalenland findet sich
dieser Name, besonders häufig aber im
sächsisch-fränkischen Grenzgebiet, auf der Scheide
zwischen Westfalen und Rheinland. Der Kreis Altena
kann allein mit fünf Ortschaften "Woeste", der Kreis
Schwelm mit drei aufwarten. Zu diesen Stätten, die
auf altem Waldboden und auf Rottland entstanden
sind, gehört auch das lippische Wüsten; eine Wüstung
ist es nie gewesen. |
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