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Die Wüstener Drachen
Eine revolutionäre Zelle im Lippe des frühen Vormärz
von Uwe Standera |
1832 passierte in Wüsten etwas bis dahin noch nie
Dagewesenes: Zu Beginn des Jahres wurden auf dem Friedhof
mehrere Drohbriefe gefunden.[1] Drei
von ihnen sind noch heute erhalten und liegen im
Landesarchiv Detmold.[2]Und die Texte
klingen in der Tat furchteinflößend und beängstigend: |
xxxxxxxxxxxx |
Untervogt. Du Bauerrichter. Und du
Müller. Wenn ihr in 14 Tage euren Dienst nicht
aufgeben, woll so kostetes euer Leben.
Harte Zeiten. Harte Leute. Harte Friede
Harte Freunde. Harte Vergelter. Harte En=
gelter. Ihr seid Bösewichter. Ihr seid Be=
trüger nehmt euch in acht.
Wir beschreiben │ Hosiana. Es lebe
uns mit dem Namen │ Frankreich. Polen.
Wüßener Drachen │ Und Braband.
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Ihr 3 Unter bedienten. Wir rahten es euch noch
einmahl,
Wenn ihr in 10 Tage euren Dienst nicht aufgeben
wollt,
so seid ihr eures Lebens nicht sicher. Denn ihr
Böse
wichter und Betrüger. Harte Zeiten Harte Leute.
Harte
Friede Harte Freunde Harte Vergelter Harte
Entgel=
ter. Wir beschreiben uns mit dem Namen Wüßener
Drachen. So nehmt euch den in nacht. │ Phävat. es lebe
│ Frankreich Polen
2 Wenn ihr Bauern das Garn nicht │
und Braband
wohlfeil verkaufen wollt. Und ihr Kaufleute eure
Betrügereien nicht laßet so fangen wir Aufruhr
an und verheren ganz Wüßen umß 31 Drachen.
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Ihr Bauern jetz erklahrts euch, wollt ihr
daß Garn. Das Holz die Wohnungen und
das Land wohlwil verkaufen, oder vermie=
ten. Oder wollt ihr sterben. Und das eure
Heuser uf allen 4 Ecken angestecket werden.
Unsere 76 Drachen sind schon da, nicht allein
Wüßners sondern auch andere. Wir stehen Frank=
reich bei
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x |
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Für die Wüstener Vorsteher Thiesmeyer und Müssemeier war die
Angelegenheit so brisant, dass sie sich am 28. März 1832
ohne Einhaltung des Dienstweges gleich an die Hochfürstliche
Regierung in Detmold wandten.
Sie
schrieben, dass der „Inhalt boshafte Absichten und solche
Grundsätze bekundet, deren Ausführungen
seit einem Jahre,
in mehreren Gegenden Teutschlands,
so großes Unglück veranlasst hat."[3]
Damit meinten sie die revolutionäre Welle des Jahres 1830,
deren Ursprung in Frankreich lag. |
Durch die Julirevolution 1830 wurde Frankreich zum Symbol
liberaler Kräfte. In Folge der Geschehnisse musste der
bisherige König Karl X. (reg. ab 1824), der sich immer noch
als Herrscher von Gottes Gnaden verstand, abdanken. Sein
Nachfolger Louis-Philippe I. stand den bürgerlichen Ideen
offen gegenüber; zudem wurde eine liberale Verfassung
verabschiedet. Die Ereignisse in Frankreich waren Auslöser
für weitere Aufstände und Unruhen, vor allem in Polen, in
den Königreichen Sachsen und Hannover, dem Herzogtum
Braunschweig, dem Kurfürstentum Hessen-Kassel und Italien.
Die erfolgreiche liberale Revolution in den südlichen
Provinzen der Niederlande (aus ihnen entstand Belgien) war
eine weitere Niederlage der monarchischen Regierungsform und
bestärkte europaweit die freiheitliche Bewegung. Und die „Wüstener
Drachen“ nahmen in ihren Briefen Bezug zu „Frankreich,
Polen und Braband“, wobei mit letzterem Belgien gemeint
ist. |
Die beiden Wüstener Vorsteher sprachen dagegen die Unruhen
in den Grenzen des Deutschen Bundes an, wo im Herzogtum
Braunschweig sogar das Braunschweiger Stadtschloss gestürmt
und niedergebrannt wurde. Zwar spielten auch hier unerfüllte
politische Forderungen als Grund für den Aufstand die
wesentliche Rolle, doch der konkrete Auslöser war das
Verhalten des Herzogs, der keine finanziellen Mittel
bereitstellte, um die Folgen der Missernte des Sommers zu
mildern. Auch in den Königreichen Hannover und Sachsen und
im Kurfürstentum Hessen kam es zu Aufständen, in deren Folge
wie auch im Herzogtum Braunschweig innerhalb der nächsten
Monate Verfassungen verabschiedet wurde. Unter dem Druck von
Teilen der politischen Elite und breiten
Bevölkerungsschichten hatten sich Kurhessen (1831), Sachsen
(1831), Braunschweig (1832) und Hannover (1833) zügig zu
fortschrittlichen Verfassungsstaaten gewandelt. Im
Fürstentum Lippe kam es – ohne Aufstände – 1836 zu einer
ersten Verfassung.[4]
Bereits 1837 wurde übrigens im Königreich Hannover die
Verfassung von 1833 schon wieder aufgehoben. In den folgenden Jahren standen im Deutschen
Reich große Teile des Bürgertums als Träger des liberalen
und nationalen Gedankengutes Verfechtern der alten,
monarchischen Ordnung gegenüber. Die fortwährende
Unterdrückung liberaler und demokratischer Ideen seitens der
Regierungen zum Beispiel durch Verfolgung, Pressezensur oder
Verbot politischer Organisationen führte schließlich zur
Deutschen Revolution im März 1848. Durch diesen Monat kam
für die Jahre vor 1848 nachträglich die Bezeichnung Vormärz
auf.[5] |
Mit dem Szenario der Aufstände des Jahres 1830 vor Augen
lösten die Drohbriefe bei den Vorstehern in Wüsten Angst
aus ̶
wurden doch im dritten Drohbrief nicht nur der Untervogt,
der Bauerrichter und der Müller, sondern alle Bauern und
damit auch die beiden Vorsteher Wüstens angesprochen. In ihrem Brief vom 28. März 1832 schrieben beide an die Lippische Regierung in Detmold, dass die „Furcht vor der
Rachsucht des Ausstellers der DrohBriefe und seiner
Verbündeten“ sie davon abgehalten habe, das „Hochfürstl.
Amt Schöttmar, um Untersuchung persönlich in Anspruch zu
nehmen"[6] und sie hoffen auf das
Verständnis der Detmolder Regierung, unter diesen Umständen
nicht den offiziellen Dienstweg eingehalten zu haben. Sie
befürchteten, dass die Wüstener Drachen zuschlagen würden,
sollten sie gewahr werden, dass sie gesucht werden. Sie
wandten sich dann aber doch noch an das Amt Schötmar und
gaben in einem Schreiben vom 3. April 1832 ihrem Wunsch
Ausdruck, „daß der Urheber entdeckt und überführt werden
möge, damit dasselbe (!) zur wohlverdienten Strafe gezogen
werden könne. Sollte aber keine Aussicht hierzu vorhanden
seÿn, so dingte zur Vermeidung unnöthigen Aufsehens und um
nicht der Sache eine Wichtigkeit
beizulegen, welche
sie im
Grunde nicht
verdient, eine
förmliche Untersuchung
zu umgehen ...“.[7]
Die Vorsteher wollten also jegliche Aufregung vermeiden, die
ja von dem Schreiber der Drohbriefe bezweckt worden ist. |
Aber wer waren nun die Wüstener Drachen? Ihre Namen sind
unbekannt geblieben, aber über ihre Anzahl geben die Briefe
Auskunft. Während der erste Brief darüber noch nichts
aussagt, wird sie im zweiten Brief mit 31, im dritten Brief
sogar schon mit 76 Drachen angegeben! Trotz dieser Anzahl
von möglichen Schreibern fiel der Verdacht, Urheber der
Briefe zu sein, zunächst „auf den ältesten 17jährigen
Sohn des im Amte Wüsten wohnende, im Rufe der Rohheit und
Sauflust stehenden Schmidts Hense.“[8]
Bestärkt wurde der
Verdacht durch die „von dem vorbezeichneten Sohne des
Schmidt Hense geschriebenen Schmiedelohn=Rechnung [...],
indem die Schriftzüge derselben mit den in den Drohbriefen
vorhandenen besondere Ähnlichkeiten dar legen."![9]
Allerdings hat eine folgende, sehr sorgfältige Überprüfung
der Schrift ergeben (der Schmiedesohn musste dazu einzelne
Passagen der Drohbriefe, die ihm diktiert wurden,
schreiben), dass er nicht der Schreiber der Briefe gewesen
sein konnte. Sein ehemaliger Lehrer Friedrich Adolph Knöner[10]
begründete in seinem Gutachten vom 11. April 1832,[11]
dass der Schmiedesohn kaum der Urheber gewesen sein konnte,
denn seine Schreibart stimme mit der in den Drohbriefen
nicht völlig überein. Seine Schrift sei „nicht so
fließend, und noch steifer, als in den Drohbriefen.“ Die
Ähnlichkeit einzelner Schriftzüge erklärt Lehrer Knöner
damit, dass der Schreiber der Drohbriefe „dem Anschein
nach in hiesiger Schule das Schreiben gelernt“ hatte.
Außerdem bezweifelte Knöner, daß „die Ausdrücke Es lebe
Polen, Frankreich p seine eigenen Gedanken sind. Hier liese
sich zwar annehmen, daß ein Anderer es ihm vorgelegt, und
ers abgeschrieben haben könnte“, dann aber „seine
Schrift vollkommene Aehnlichkeit mit der in den Drohbriefen
hätte.“ Und dem war eben nicht so. Knöner kannte den
Schmiedesohn lange als seinen Schüler. Aufgrund seiner
jahrelangen Erfahrungen schrieb er, dass Henses Verhalten
keineswegs darauf schließen lasse, „daß er jetzt schon zu
einer so nichtswürdigen Handlung fähig seÿ.“ Knöner
erinnerte sich, „bei seinem freilich nicht vorzüglichen
Talent doch keine ränkevolle und boshafte Streiche an ihm
bemerkt [zu] habe[n]“. Ebenso sah Knöner keinen Grund
für die Vermutung, „daß er durch das leichfertige
Betragen seines Vaters schon so unsittlich geworden seÿ, um
solche Drohbriefe verfertigt zu haben.“ Außerdem zeigte
der Schmiedesohn „nicht die geringste Anwandlung von
Furcht“, als mit ihm über die Briefe gesprochen wurde,
und er erklärte. „dass, wenn es für nothwendig erachtet
werde, er sich durch einen Eid reinigen könne.“ Mit
diesem Gutachten war die Sache für Wüsten und den
Schmiedesohn erledigt. Der Verfasser der Briefe wurde nie
herausgefunden.
|
Aber ganz gleich wer der Verfasser der Drohbriefe war oder
welche Personen sich als Wüstener Drachen bezeichneten:
Ihnen war die politische Situation der beginnenden 1830er
Jahre bekannt und sie sympathisierten mit den
Aufständischen, hatten vermutlich die gleichen politischen
Ideen, sind ihrem Auftreten nach aber dem radikalen Spektrum
der Vertreter demokratischer Ideen zuzuordnen. Und dass die
Furcht der Vorsteher angesichts der 76 Drachen vor einem
Aufstand in Wüsten nicht unbegründet war, zeigt die
Entwicklung in Frankreich. Der sogenannte Juniaufstand 1832
richtete sich gegen die Regierung König Louis-Philippes I.
von Frankreich, der seit der Julirevolution 1830 herrschte.
Auslöser waren unerfüllte politische Forderungen. Der
Aufstand in Paris zwischen den Aufständischen und
Regierungstruppen wurde niedergeschlagen und hatte keinen
unmittelbaren politischen Änderungen zur Folge. Die
vorausgehende politische Unzufriedenheit ist allerdings bis
nach Wüsten vorgedrungen und wurde dort geteilt. Nur so
lässt sich das solidarische „Wir stehen Frankreich bei“
am Ende des letzten Drohbriefes verstehen! |
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Quellen: |
1
LAV NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 2 r. |
|
2
LAV NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 3 r, 4 r
und 5 r. |
|
3
LAV NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 2 r. |
|
4 LAV
NRW OWL, L 77 A, Nr. 3575 (Verfassung vom 6. Juli 1836). |
|
5 Zum Vormärz und zum
Revolutionsjahr 1848 in Lippe im
Allgemeinen siehe: Erhard Wiersing und Hermann Niebuhr (Hgg.),
Lippe im Vormärz: Von bothmäßigen Unterthanen und
unbothmäßigen Demokraten, Bielefeld 1990
(Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und
Historischen Vereins für das Land Lippe 35), hier besonders
der Aufsatz von Heide Barmeyer, Lippe 1800 – 1848.
Biedermeier oder Vormärz?, S. 17–55;
Harald Pilzer und Annegret Tegtmeier-Breit (Hgg.),
Lippe 1848. Von der demokratischen Manier eine Bittschrift
zu überreichen, Detmold 1998 (Auswahl- und
Ausstellungskataloge der Lippischen Landesbibliothek Detmold
34). |
|
6 LAV
NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 2 v und 6 r (dazwischen
liegen die Drohbriefe). |
|
7
LAV NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 7 r. |
|
8
Mit dem Sohn des Schmiedes Hense kann nur der
am 17. Dezember 1816 geborene Friedrich Wilhelm Hense
gemeint sein. Er war der Sohn des Schmiedes Simon Henrich
Adolph Hense (* Heiligenkirchen 19.11.1780, † Wüsten 3.
Dezember 1859) und dessen Ehefrau (∞ Schötmar 24.
April 1812) Johanna Catharina Meier-Cord (*
Aspe 29.
Januar 1784, † Wüsten 8. März 1851).
Friedrich Wilhelm Hense war der Erbe der väterlichen
Schmiede und seit dem 9. April 1848 mit Friederike Henriette
Süllwald verheiratet. |
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9
LAV NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 2 v. |
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10
Eine Würdigung des Lehrers, Küsters und
Organisten Friedrich Adolph Knöner ((* Lieme 20. März 1780,
† Wüsten 20. April 1844) findet
sich auf dieser Homepage unter der Rubrik „Wüstener
Persönlichkeiten“. |
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11
LAV NRW OWL, L 77 A, Nr. 362, fol. 10 r/v. |
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